30 Stolpersteine halten die Erinnerung an die Opfer des Naziterrors wach

Thema des Monats: April 2023

„Diese Platten sind klein, aber ihre Wirkung ist groß, denn erst wenn die Erinnerung an einen Menschen erlischt, dann stirbt dieser.“ Vor 20 Jahren gab Katharina Prokopp, damals Schülerin in der neunten Klasse, mit einem empathischen Brief an die Stadt Freising den Anstoß für die Verlegung der ersten Stolpersteine.

Der Kölner Künstler Günther Demnig, Initiator dieser besonderen Form des Gedenkens, kam im September 2005 persönlich in die Domstadt, um die ersten vier Messingplatten in den Bürgersteig zu setzen. In Freising sorgen mittlerweile 30 Stolpersteine dafür, dass die Opfer des nationalsozialistischen Terrors nicht in Vergessenheit geraten. Zuletzt im Januar 2023 wurden neue Gedenksteine installiert, um auf die grausamen „Krankenmorde“ hinzuweisen.

Verdrängen der Nazi-Vergangenheit

Lange Zeit erschienen die Handlungsorte des Dritten Reichs fern: Berlin, München und allenfalls Dachau. Dass auch in Freising Mitbürgerinnen und Mitbürger von diesen unsagbaren Verbrechen betroffen waren, wurde verdrängt. Erst in den 1980er Jahren begann eine umfassendere Auseinandersetzung. Allerdings: Der Freisinger Stadtrat lehnte noch 1983 mehrheitlich zwei Anträge ab, in denen eine Thematisierung des Nationalsozialismus anlässlich der 50. Wiederkehr der Machtübernahme von 1933 gefordert worden war. Zu einem Umdenken führte eine zeitgleich entstandene Arbeitsgruppe unter der Federführung von Sonja Kochendörfer, Toni Schmid und Ernest Lang und ebenso ein Schulprojekt des Lehrers Franz Then am Josef-Hofmiller-Gymnasium. Das von Kochendörfer und Schmid im November 1983 herausgegebene Buch „Freising unter dem Hakenkreuz“, das heute in vielen Freisinger Haushalten zu finden ist, befasste sich erstmals mit der Judenvertreibung.

In Form von Denkmälern im öffentlichen Raum setzte das Gedenken an die NS-Opfer erst Ende der 1990er Jahre ein. Ein Antrag von Stadtrat Guido Hoyer führte 2000 zur Anbringung einer Gedenktafel an der Westseite des Marcushauses. Diese erinnert an die Familien Lewin, Holzer, Krell, Neuburger und Schülein, die Opfer der nationalsozialistischen Judenverfolgung waren.

Würdige Form der Erinnerungskultur

Eine neue Dimension des Erinnerns bedeuten Stolpersteine: Sie gedenken nicht einer Gruppe von Opfern, sondern des individuellen Schicksals eines Menschen. „Diese Aktion soll verhindern, dass der Tod unschuldiger Menschen in Vergessenheit gerät“, so lautete das Anliegen der Gymnasiastin Katharina Prokopp, als sie im Jahr 2003 an die Stadt mit dem Wunsch herantrat, auf Kosten ihrer Familie vier Steine zur Erinnerung an verfolgte und ermordete Juden in Freising zu verlegen. Damit entfachte sie eine Debatte im Stadtrat. Denn einige stießen sich daran, dass die Stolpersteine im Boden liegen und damit das Andenken an die Opfer quasi mit Füßen getreten würde. Letztlich unterstützte eine deutliche Mehrheit diese Gedenkform.

Der „Stolperstein“-Künstler Gunter Demnig installierte dann am 29. September 2005 die ersten vier Steine: für Marcus Lewin (vor dem Marcushaus, Untere Hauptstraße 2), Max Schülein (Bahnhofstraße 1), Bernhard Holzer (Obere Hauptstraße 9) und Emma Neuburger (Bahnhofstraße 4). Sie alle wurden in Konzentrationslagern ermordet – Marcus Lewin nahm sich am 11. Juli 1942 das Leben, um einer Deportation ins KZ zuvorzukommen.

Auf Initiative des Ehepaars Margret und Gerd Behrend aus Thalhausen (Gemeinde Kranzberg) wurden am 26. April 2007 weitere neun Messing-Tafeln in den Gehweg eingelassen. Wieder ging es um jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger, die während der Naziherrschaft aus Freising vertrieben oder deportiert wurden und vielfach im KZ zu Tode kamen. Zu dem Stolperstein für Bernhard Holzer (Obere Hauptstraße 9) kamen weitere für Ilse, Irma, Henriette, Siegfried, Hanna, Oskar und Hedda Holzer – alle Angehörige der Kaufmannsfamilie. Vor dem Haus des einstigen Textil- und Modewarengeschäfts Neuburger (Bahnhofstraße 4) wurde neben Emma Neuburger ihren Geschwistern Alfred und Siegfried ein Denkmal gesetzt.

Original-Antrag zur Verlegung der ersten Solpersteine

Tödliche Waffe "Sicherheitsverwahrung"

Eine dritte Aktion ging von der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) Freising und Stadtrat Guido Hoyer aus: Die am 29. November 2016 verlegten Steine galten der Erinnerung an drei Mitbürgerinnen und Mitbürger, die wegen ihres jüdischen Glaubens Opfer der NS-Terrorherrschaft wurden: Dr. Martin Holzer (Obere Hauptstraße 9), Hildegard Lewin (Marcushaus, Untere Hauptstraße 2) und Emma Reißermeyer (Wippenhauser Straße 18). Ein vierter Stein wurde zum Gedenken an Georg Ziegltrum (Haydstraße 23) verlegt. Er war als „Volksschädling“ diffamiert worden.

Der Immobilienberater Ziegtrum wurde mehrfach verhaftet und nach Dachau verschleppt, wo sein Tod am 14. Mai 1943 mit der fingierten Ursache "Versagen von Herz und Kreislauf bei Magen- und Darmkatarrh" gemeldet wurde. Wiederholt verhaften konnten ihn die Nazis, weil sie Ziegltrum zum „Gewohnheitsverbrecher“ erklärten, bei dem „Sicherheitsverwahrung“ angeordnet werden konnte – ein Instrument und letztlich tödliche Waffe, um politische Feinde zu isolieren und unbegrenzt einzuweisen. Mit dem Gedenkstein für Georg Ziegltrum wurde das erinnerungskulturelle Spektrum in Freising erstmals auf ein Opfer außerhalb des Holocaust ausgeweitet.

Opfer der NS-Krankenmorde

Die nächste Verlegung eines Stolpersteins am 9. Juli 2021, angestoßen von Fritz Schulte und Oberstudienrat Andreas Decker vom Camerloher-Gymnasium, galt erstmalig einem Opfer von Zwangssterilisation: Johann Rannertshauser (Jahnstraße 5), „wegen angeborenen Schwachsinns“ 1936 sterilisiert, als politisch gefährlich, schachsinnig schizoider Psychopath und „arbeitsscheu“ verunglimpft, starb er im Alter von nur 31 Jahren am 28. April 1945 wohl grausam an Mangelernährung. 

(Hier klicken, um zum ausführlichen Beitrag über die Stolperstein-Verlegung für Johann Rannertshauser zu lesen.)

Die jüngste Aktion fand am 27. Januar 2023 statt (hier geht´s zum ausführlichen Bericht). Es wurden weitere zwölf Stolpersteine gesetzt, die ebenfalls Opfern der NS-Krankenmorde in Freising galten. Die Initiative lag wiederum beim VVN-BdA Freising sowie bei Stadtrat und Geschichtsreferent Guido Hoyer. Zwölf Namen dokumentieren das grausame wie unfassbare Schicksal von Freisingerinnen und Freisingern, die aufgrund psychischer Erkrankung oder Behinderung in den Gaskammern ermordet wurden; Bartholomäus Bauer (Apothekergasse 5),  Maria Grassl (Weihenstephaner Steig 2), Karl Haunschild (Erdinger Straße 10), Franz Xaver Huber (Grottenau 40), Anna Hufschmied (Altenhausener Straße 11), Lampert Schuster (Rindermarkt 6), Ursula Seibold (Rindermarkt 7), Wilhelmine Krippner (Rindermarkt 20), Benno Riedl (Ferdinand-Zwack-Straße 16), Emilie Schindler (Kulturstraße 7), Rosina Steinecker (Dr.-von-Daller-Straße 55) und Walburga Thalhammer (Meisenstraße 1).

Mahnmale gegen das Vergessen

„Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist“, heißt es im Talmud.   Mit den Steinen vor den Häusern wird die Erinnerung an die Menschen lebendig, die dort einst wohnten. Das von Gunter Demnig ins Leben gerufene größte dezentrale Denkmal Europas umfasst mittlerweile 98.000 verlegte Steine in etwa 1.800 Städten und Gemeinden (Stand Februar 2023).  

Freising gedenkt mit den mittlerweile 30 Stolpersteinen den Opfern des Faschismus – früheren Nachbarinnen und Nachbarn, die mitten unter uns lebten. „Was sich unmittelbar vor unseren Füßen auftut, nehmen wir vielleicht sogar leichter wahr als größere Gedenktafeln an Hausfassaden, so es dort überhaupt möglich ist“, unterstreicht Oberbürgermeister Tobias Eschenbacher die einhellige Unterstützung dieser sichtbaren Erinnerungsarbeit – mitten in der Stadt. Zugleich sind die Messingtafeln Mahnung: damit nicht vergessen wird, wer diese Verbrechen begangen hat und warum Mitmenschen sie zugelassen haben.

Die Stolpersteine, die während der Innenstadt-Neugestaltung vorübergehend entfernt wurden, werden voraussichtlich in diesem Jahr wieder in die bereits fertiggestellten Pflasterflächen integriert. Sie waren vor dem Ausbau vermessen und fotografisch dokumentiert worden. Dieses Verfahren ist auch für die noch bevorstehenden Abschnitte des Innenstadtumbaus vorgesehen.

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