Stolperstein für Johann Rannertshauser

Freising gedenkt mit einem Stolperstein der Ermordung von Johann Rannertshauser – ein Opfer von Zwangssterilisation und Tod durch Mangelernährung. Vor dem Anwesen Jahnstraße 5, wo Rannertshauser zeitweise bei seinen Eltern lebte, wurde am Freitag, 09. Juli 2021, der Gedenkstein von Oberbürgermeister Tobias Eschenbacher, Geschichtsreferent Guido Hoyer und Oberstudienrat Andreas Decker enthüllt. Die Verlegung des Stolpersteins ist der Initiative von Fritz Schulte, der den Stolperstein auch finanziert hat, sowie Peter Floßmann und Andreas Decker zu verdanken. „Es ist Zeit, dass wir in Freising an das traurige, unmenschliche Schicksal von Herrn Rannertshauser erinnern. Dauerhaft. Das sind wir heutige Freisingerinnen und Freisinger ihm wie auch anderen Opfern der NS-Terrorherrschaft schuldig“, sagte OB Eschenbacher.

Es ist bereits der 18. Stolperstein, mit dem in Freising die Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus wachgehalten werden soll. Diese „geeignete und würdige Form“ der Erinnerungskultur habe 2005 ihren Anfang genommen, damals angestoßen von der Schülerin Katharina Prokopp, berichtete der OB. Weitere Gedenksteine folgten 2007 und 2016. Was sich unmittelbar vor den Füßen auftue, „nehmen wir vielleicht sogar leichter wahr als größere Gedenktafeln an Hausfassaden, – so es dort überhaupt möglich ist“, so Eschenbacher. Zumal die im Boden verlegten Messingplatten deutlich machten, dass die NS-Opfer „immer auch Nachbarn waren und mitten in der Stadt lebten, bevor man sie dazu zwang, ihr Lebensumfeld für immer zu verlassen.“ Abschließend bekräftige der Stadtchef: „Die Erinnerung muss mitten unter uns stattfinden.“

Grabinschrift setzt Recherchen in Gang

Mit dem Schicksal von Johann Rannertshauser hatte sich Oberstudienrat Decker im Rahmen eines Seminars am Camerloher-Gymnasium beschäftigt, wobei den eigentlichen Anstoß Fritz Schulte gegeben hatte: Ihm war bei einer Beerdigung am Friedhof St. Georg die Inschrift auf der Grabstelle der Familie Rannertshauser aufgefallen. „Vergast in Dachau am 30.4.1945“, steht unter dem Namen des 1913 geborenen Johann. Doch schon bald stellte sich heraus, dass er nicht im KZ Dachau vergast worden war. „Wir wollten wissen, wie es wirklich gewesen ist und haben uns an die Recherche gemacht“, schilderte Decker.

Das Ergebnis von eineinhalbjährigen Nachforschungen, das 2019 in einem lesenswerten Beitrag („Das Leben von Johann R.“) in der Zeitschrift „Amperland“ erschienen ist, zeichnet das Leben von Rannertshauser im Detail nach: Schon mit einem Jahr hat er die Familie, die in der Jahnstraße 5 im zweiten Stock wohnte, verlassen müssen und kommt zu den Großeltern mütterlicherseits „in Pflege“ nach Paunzhausen. Dort besucht er ab 1920 die Volksschule und verlässt diese nach mehreren Klassenwiederholungen in der 5. Klasse, arbeitet danach in der Landwirtschaft der Großeltern und steht 1931 beim Pfarrer in Aufkirchen (Landkreis Erding) im Dienst. Ein schwerer Arbeitsunfall, bei dem ihm ein Heuwagen über das rechte Bein fährt, hat eine körperliche Einschränkung zur Folge. So lebt er ab Februar 1932 als arbeitslos Gemeldeter bei seinen Eltern, am 17. August 1933 wird er „nach unbekannt abgemeldet“.

Leben außerhalb der „Volksgemeinschaft“

Ab diesem Zeitpunkt, so fasste es Decker zusammen, habe Johanns „unstetes Leben“ begonnen mit Bettelei und Landstreicherei. Mehrfach wird er ab 1934 verhaftet. Im Arbeitshaus Schweidnitz in Schlesien, in das er 1935 eingeliefert wird, sterilisiert man ihn im Mai 1936 „wegen angeborenen Schwachsinns“. Während eines Gefängnisaufenthalts in Weilheim wird er 1937 denunziert wegen Äußerungen gegen das NS-Regime und dessen Repräsentanten. Unter anderem beschuldigt er Göring als eigentlichen Verantwortlichen des Reichstagsbrands. In einem für das Gericht angefertigten medizinischen Gutachten heißt es: „Wir haben es bei R. mit einer psychopathischen Persönlichkeit zu tun, die sicherlich bis zu einem gewissen Grad auch als schwachsinnig anzusehen ist.“ Angeklagt wird er vor dem Sondergericht München, das ihn im September 1937 zu vier Monaten Haft verurteilt: weil seine Hetze gegen das Reich als Gefahr angesehen wird und wegen seiner „Arbeitsscheue“.

Grausamer Tod mit 31 Jahren

Es folgt der letzte, grauenvolle Akt im Leben von Johann. Nach Verbüßung der Haft wird er in ein Arbeitshaus eingesperrt, das ihn im September 1939 entlässt. Nur vier Tage später wird er abermals – mittlerweile zum zehnten und letzten Mal – wegen Bettelei und Landstreicherei verhaftet. Er gilt als politisch gefährlich, als ein schachsinnig schizoider Psychopath und arbeitsscheu. Die Ärzte stellen zusammenfassend fest, er müsse wegen „Gemeingefährlichkeit“ unbefristet in einer Heilanstalt weggesperrt werden. Johann Rannertshauser wird im Januar 1940 in die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren verlegt. Dort ist er bis zu seinem Tod am 28. April 1945 untergebracht.

Seine medizinische Versorgung ist bescheiden, er verliert Gewicht – vermutlich, weil er als „unnützer Esser“ in den letzten Monaten nur sogenannte Hungerkost erhält. Offiziell wird als Todesursache „Enteritis“, also eine Magen-Darm-Entzündung, festgehalten. „Tatsächlich ist er wohl verhungert“, ordnete Decker das schreckliche Ende folgerichtig ein. Auch viele andere Inhaftierte seien 1944/45 in Kaufbeuren wegen Verabreichung von „Entzugskost“ gestorben. Johanns Familie erfährt erst im Juli 1945 von seinem Tod. Wann sie sich zu der Grabinschrift entschlossen hat, konnte nicht ermittelt werden – ebenso wenig wurden bislang Familienangehörige oder Nachkommen gefunden.

Grabstelle als „Mahnmal“ erhalten

Johann R. „war weitgehend vergessen – jetzt bekommt er einen Namen“, bedankte sich Geschichtsreferent Guido Hoyer bei den Initiatoren für den Stolperstein. Die Inschrift auf dem Grabstein sei herausfordernd und errege Anstoß, „auch heute noch und sicherlich in den 1950-er Jahren des Wirtschaftswunders, als man die NS-Zeit vergessen wollte“. Hoyer interpretiert die Beschriftung als ein Zeitdokument für die damalige Vorstellung: „Die NS-Zeit, das war Dachau.“ Offensichtlich sei es der Familie wichtig gewesen, die Ermordung Johanns auf der Grabstelle festzuhalten. Hoyer plädierte dafür, den Grabstein „als Mahnmal“ zu erhalten und durch eine erläuternde kleine Tafel zu ergänzen. Diesen Vorschlag unterstützte Oberstudienrat Decker ausdrücklich.

Hier wohnte
Johann Rannertshauser
JG. 1913
Gegner der NS-Diktatur
Seit 1934 mehrmals verhaftet
1936 zwangssterilisiert
Eingewiesen 1940
Heilanstalt Kaufbeuren
Ermordet 28.4.1945

Die Erinnerungskultur muss weitergehen

Hoyer machte zugleich deutlich, dass neben Rannertshauser weitere Bürger*innen aus dem Landkreis der Euthanasie zum Opfer gefallen seien: Nach dem vorläufigen Stand der Forschung seien in der Reichstötungsanstalt im Schloss Hartheim (bei Linz) zwischen November 1940 und Januar 1941 „mindestens 34 Personen aus der Stadt und dem Landkreis Freising in der Gaskammer umgebracht worden“. Andere habe man wie Rannerthauser verhungern lassen. „Wir wissen nicht sehr viel über die Euthanasie im Landkreis Freising“, 400 Menschen hätten als schwachsinnig geholten und seien zwangssterilisiert worden. Hoyers eindringliches Fazit: „Wir haben noch viel an Erinnerungskultur zu tun!“

Nach oben