Januar 2019 - Ehemalige Artilleriekaserne mit Reichsadler-Skulptur (um 1940)

Wer die Mainburger Straße (B 301) stadtauswärts geht oder fährt, bewegt sich auf der Hügelkuppe, kurz vor der Linkskurve, geradewegs auf die Überreste der ehemaligen General-von-Stein-Kaserne zu: das rot leuchtende Stabsgebäude, davor der Rest der charakteristischen Bruchsteinmauer. Wohl nur am Rande nimmt man die kleine Grünfläche wahr, die sich im Kreuzungsbereich Mainburger Straße / General-von-Stein-Straße unauffällig zwischen Gehweg und Kasernenmauer schiebt. Die sonst durchgehend freigestellte Mauer ist in diesem Abschnitt kaum zu sehen, denn seit vielen Jahrzehnten wird sie hier von Sträuchern verdeckt. So, als müsste etwas verborgen werden.

Tatsächlich verbirgt sich etwas hinter den Sträuchern: Ein massiv gemauerter Block, der aus demselben Bruchsteinmaterial wie die Kasernenmauer zusammengesetzt ist. Bei genauerer Betrachtung fällt hier ein im oberen Drittel der Vorderseite eingefügter kreisrunder Stein auf, der erkennbar grobschlächtig behauen ist. auf diesem Stein war ursprünglich ein Hakenkreuz angebracht und auf dem Block, der als Postament fungierte, stand ein steinerner Reichsadler. Auf einer Postkarte aus der Zeit um 1940 sind das Postament und die steinerne Adlerskulptur (trotz mäßiger Druckqualität) zu erkennen (vgl. Abb.). Bei öffentlichen NS-Bauten war die Anbringung entsprechender Symbole, in der Regel im Eingangs- oder Auffahrtsbereich, die Norm; so auch bei der 1936 errichteten Freisinger Artilleriekaserne (später "General-von-Stein-Kaserne"). Auch andernorts finden sich noch heute die Überreste solcher Anlagen, insbesondere im Bereich von NS-Kasernenbauten (z.B. ehem. Ritter-von-Möhl-Kaserne in Amberg; Hochstaufen-Kaserne in Bad Reichenhall; Werdenfelser-Kaserne in Murnau). Teilweise sind diese Anlagen dabei als Mahnmale umfunktioniert, teilweise aber lediglich einer pragmatischen Umdeutung unterzogen worden.

In einem an den Freisinger Bürgermeister Emil Berg (amt. 1945-1946) gerichteten Schreiben vom 3. August 1945 befahl der damalige Stadtkommandant der U.S.-Armee, Captain Albert G. Snow, die Beseitigung aller auf dem Stadtgebiet befindlichen Namen, Bilder und Skulpturen, die in irgendeiner Weise mit dem Nationalsozialismus in Verbindung standen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt dürften auch der Adler und das Hakenkreuz vor der Kaserne entfernt worden sein (um ein NS-Symbol handelte es sich genau genommen nur beim Hakenkreuz; im Gegensatz zu anderen NS-Kasernenbauten wurde im Freisinger Fall auch der Adler abgenommen). Relativ leicht beseitigen ließ sich dabei das Hakenkreuz auf dem kreisrunden Stein: Es wurde ausgemeißelt. Über die Demontage und den weiteren Verbleib des Steinadlers war dagegen lange nichts bekannt. Ein Zeitzeuge aus Neustift konnte jedoch unlängst interessante Angaben dazu machen: Zusammen mit anderen Kindern beobachtete er im Sommer 1945, wie amerikanische Soldaten die Adlerskulptur mit einem LKW an den Waldrand bei der Wiesenthalstraße fuhren und in eine dort befindliche Abfallgrube kippten. Schon kurze Zeit später sei die Grube verfüllt worden, wie sich der Zeitzeuge erinnert.

Heute, fast ein dreiviertel Jahrhundert später, besitzt das steinerne Postament vor der ehemaligen Kaserne ohne Zweifel erinnerungskulturelle Bedeutung: Ursprünglich als Teil eines Monuments der nationalsozialistischen Herrschaft errichtet, erinnert es nunmehr - als Fragment - an das Ende der Schreckensherrschaft sowie an die beginnende Besatzungszeit in Freising. Eine dauerhafte Erhaltung des Postaments im Kontext der Kasernenmauer und des dahinterliegenden ehemaligen Stabsgebäudes wäre ein angemessener Umgang mit der Freisinger Zeitgeschichte.

Autor: Florian Notter


 

Februar 2019 - Ein Handwerksbrief der Freisinger Schuhmacherzunft (1773)

Freising war eines von vielen Etappenzielen auf der weitläufigen Route des 22-jährigen Schuhmachergesellen Joseph Schaffstaller. Er erreichte die Stadt im Winter, zu Beginn des Jahres 1773. Einen längeren Aufenthalt plante er hier nicht. Denn Schaffstaller befand sich auf seiner Gesellenwanderschaft ("auf der Walz"). Für einen Gesellen wie ihn, der seine Lehre innerhalb einer Zunft durchlaufen hatte, waren die anschließende Wanderschaft und die Tätigkeit in möglichst vielen Handwerksbetrieben unterschiedlicher Regionen ein unverzichtbarer Teil des Ausbildungswegs. Für die Zulassung zur Fertigung des Meisterstücks wurde eine erfolgreiche Gesellenwanderschaft in der Regel sogar vorausgesetzt.

In Freising angekommen dürfte sich Joseph Schaffstaller zunächst bei einem Meister seiner Profession, also bei einem Schuhmachermeister, gemeldet haben. Da die Aufnahme von Wandergesellen eine Angelegenheit der jeweiligen Zunft war, ist zu  vermuten, dass die Zuteilung einvernehmlich durch alle Mitglieder der Freisinger Schuhmacherzunft erfolgte. Die Schuhmacherzunft war eine von rund 20 Handwerkszünften der Stadt. Schaffstaller wurde dem Schuhmachermeister Caspar Raspiller zugewiesen, der seine Werkstatt im Eckhaus Brennergasse/Fischergasse, vis-á-vis des Gefängnisses, betrieb. Wahrscheinlich wohnte der Wandergeselle dort auch.

Bereits nach zwei Wochen nahm Joseph Schaffstaller seinen Abschied aus Freising, um weiterzuziehen. Damit er die Tätigkeit später nachweisen konnte, wurde ihm von der Schuhmacherzunft ein Dokument ausgehändigt, das vom 3. Februar 1773 datiert und neben einem Textformular einige handschriftliche Eintragungen zu seiner Person enthielt. Außerdem wurde es von den beiden Oberführern und den beiden Unterführern der Zunft sowie von Caspar Raspiller, seinem Freisinger Meister, unterzeichnet (vgl. Abbildung).

Derartige Dokumente werden allgemein als "Handwerksbriefe" oder auch als "Handwerksurkundschaften" bezeichnet. Sie beziehen sich ausschließlich auf die Betätigung einer Tätigkeit während der Gesellenwanderschaft und sind damit etwa vom Lehr- oder Gesellenbrief, der den erfolgreichen Abschluss der Lehrzeit attestiert, zu unterscheiden. Eine stärkere Formalisierung erhielten Handwerksbriefe mit der 1731 von Kaiser Karl VI. erlassenen Reichshandwerksordnung, die für das Handwerk in allen Territorien des Alten Reichs einheitliche Standards erbringen sollte. Der Typus jener formalisierten Handwerksbriefe fand in der Folgezeit tatsächlich eine starke Verbreitung. Ab etwa 1770 setzte sich nach eine besonders aufwändige Form durch, die neben dem Textformular auch Bildmotive, zumeist Ansichten der jeweiligen Stadt, enthielten. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde der Handwerksbrief von der praktikableren Form des Handwerksbuches abgelöst.

Aktuell sind elf historische Freisinger Handwerksbriefe bekannt, darunter zwei, die in Freising selbst verwahrt werden: Der hier gezeigte aus dem Stadtarchiv (Schuhmacher-Zunft, 1773, ohne Stadtansicht) und ein weiterer in den Beständen des Historischen Vereins (Lein- und Zeugweber-Zunft, 1803, mit Stadtansicht).

Autor: Florian Notter
Quellen: StadtAFS, Zunftunterlagen, Handwerksbrief 1773; ebd., Häuserkartei (Franz Bichler), Anwesen Fischergasse 1.


 

März 2019 - Fotopostkarte: Ausrufung der Räterepublik in Freising (1919)

Die Revolution von 1918/19 in Bayern dauerte nur wenige Monate, alles in allem ein halbes Jahr. Trotz der vergleichsweise kurzen Zeitspanne gestaltet sich der Zugriff auf diese historische Phase bis heute nicht leicht, denn die Ereignisse sind von einer enormen Dichte und Vielschichtigkeit – und damit außerordentlich komplex. Mittelpunkt des Umsturzes war stets die Landeshauptstadt, doch griffen die dortigen Entwicklungen weit aus und erreichten viele bayerische Städte und Gemeinden, darunter auch Freising.

Ihren Anfang nahmen die revolutionären Ereignisse am 7. November 1918 in München: Im Rahmen einer Friedenskundgebung auf der Theresienwiese, die von den Freien Gewerkschaften, der SPD und der USPD initiiert wurde, gelang es Teilen letzterer Partei, die in den Münchner Kasernen stationierten Soldaten für einen politischen Umsturz zu gewinnen (die sozialistische USPD, die „Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands“, war erst 1917 als Abspaltung der SPD neu gegründet worden). Noch am selben Tag konnten die Revolutionäre die wichtigsten infrastrukturellen Einrichtungen Münchens unter ihre Kontrolle bringen und bildeten – nach sozialistischem Vorbild – einen Arbeiter- und Soldatenrat (diesem Beispiel sollten in den darauffolgenden Tagen zahlreiche bayerische Städte folgen, so auch Freising, wo am Abend des 8. November ebenfalls ein Arbeiter- und Soldatenrat gebildet wurde). Nennenswerten Widerstand dagegen gab es nirgendwo, wohl nicht zuletzt aufgrund der allgemeinen Kriegsmüdigkeit der Bevölkerung. In der Nacht auf den 8. November proklamierte der Münchner USPD-Führer Kurt Eisner den „Freistaat Bayern“. Bis zur Abhaltung von Landtagswahlen, die eine legitime Grundlage für Parlament und Regierung schaffen sollten, wurde mit dem „Provisorischen Nationalrat“ eine Art Interimsparlament eingerichtet. Diesem Gremium gehörten Mitglieder verschiedener bisheriger Landtagsfraktionen sowie Vertreter der neu gegründeten Arbeiter- Soldaten- und Bauernräte an. Der „Provisorische Nationalrat“ bestätigte die zwischen SPD und USPD vereinbarte provisorische Regierung unter der Führung von Ministerpräsident Eisner, konnte sich aber in den folgenden Wochen nicht gegen die Machtfülle der Regierung behaupten und verlor an Bedeutung. Ebenso allgemein gehalten und im Wesentlichen auf die lokale Ebene begrenzt blieben die Kompetenzen der Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte – auch wenn sie von der Regierung als „Grundlage des neuen Regierungssystems“ bezeichnet wurden. Die ersten demokratischen Landtagswahlen am 12. Januar 1919 brachten für den Ministerpräsidenten und seine USPD ein niederschmetterndes Ergebnis: Lediglich 2,5 Prozent der Stimmen konnten sie auf sich vereinen. Seinen durch das Wahlergebnis letztlich unvermeidlichen Rücktritt vom Amt des Ministerpräsidenten konnte Eisner nicht mehr verlesen. Auf dem Weg zur entscheidenden Landtagssitzung wurde er am 21. Februar 1919 vom Studenten Anton Graf von Arco auf Valley erschossen.

Nach Eisners Tod begann eine neue Phase der Revolution. Schon nach den Landtagswahlen hatten sowohl im linken, sozialistischen als nach und nach auch im rechten, überwiegend monarchistisch geprägten Lager die radikalen Kräfte an Bedeutung gewonnen. Jetzt, Ende Februar und den März über, spitzte sich die Lage weiter zu. Bereits am Tag nach Eisners Ermordung wurde mit dem „Zentralrat der Republik Bayern“ ein zentrales sozialistisches Rätegremium geschaffen. Auf dem zwischen 25. Februar und 8. März 1919 stattfindenden „Kongress der bayerischen Räte“ konnten sich die Anhänger einer Ausrufung der „sozialistischen Räterepublik“ allerdings nicht durchsetzen – ein entsprechender Antrag wurde mit 234 zu 70 Stimmen abgelehnt. Stattdessen einigte man sich in langwierigen Verhandlungen mit der SPD, die bei den Landtagswahlen mit 33 Prozent ein starkes Ergebnis erhalten hatte und an einer parlamentarischen Regierungsform festhielt, auf die Bildung einer neuen Regierung unter der Führung von Johannes Hoffmann (SPD). Am 17. März 1919 wurde dieser vom Landtag zum neuen Ministerpräsidenten gewählt.

Die letzte, mitunter stark radikalisierte und blutige Phase der Revolution begann am 7. April 1919, als in München die „Baierische Räterepublik“ ausgerufen wurde. Die Regierung Hoffmann hatte es in den vergangenen Wochen nicht vermocht, den Anhängern einer Räterepublik und ihrer Forderung nach Sozialisierungsmaßnahmen zu begegnen. Sie floh nach Bamberg. Die Forderung, die parlamentarische Demokratie durch ein Rätesystem nach sowjetischem Vorbild zu ersetzen, wurde unter den Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräten im Land zunehmend populärer. Wiederum folgten zahlreiche Städte dem Münchner Vorbild. Während die „Baierische Räterepublik“ in den meisten bayerischen Städten jedoch nur eine kurze Episode von wenigen Tagen geblieben ist, kam es besonders in München zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Mit großer Brutalität bereiteten Reichswehrverbände und Freikorps der Räterepublik am 1. und 2. Mai 1919 auch dort ein Ende.

Einen Eindruck, wie sich die revolutionären Ereignisse von 1918/19 in Freising darstellten, vermittelt uns eine Fotopostkarte des Fotografen Josef Hofmann (1884-1955) (vgl. Abb.). Hier ist der Beginn der letzten Revolutionsphase, die Ausrufung der „Baierischen Räterepublik“, festgehalten. Die Karte zeigt mehrere hundert Menschen, die sich am Nachmittag des 7. April 1919 im Hof der Jägerkaserne (spätere „Vimy-Kaserne“) versammelten und der Räterepublik ihre Loyalität bekundeten. Die Redner, darunter der Freisinger SPD-Führer Ferdinand Zwack, standen vor den heutigen Anwesen Major-Braun-Weg 6, 8 und 10. In den letzten Apriltagen 1919, unter dem Eindruck der herannahenden Regierungstruppen, sagten sich auch die Freisinger Anhänger von der Räterepublik los – was im Gegensatz zu München weitgehend friedlich und unblutig geschah.

Autor: Florian Notter
QUELLEN: StadtAFS, NL Franz Bichler, Postkarten-Selekt. 


 

April 2019 - Textheft zur Aufführung von Carl Heinrich Grauns "Der Tod Jesu" im Freisinger Dom (1782)

In der Sammlung historischer Druckschriften im Stadtarchiv Freising befindet sich ein äußerlich unscheinbares, kleinformatiges Heft, das sich aus fünf Blatt von 16,3 auf 10,5 Zentimeter zusammensetzt. Es stammt aus der Werkstatt des fürstbischöflichen Hofbuchdruckers Franz Singer. Wie dem Titelblatt zu entnehmen ist, handelt es sich dabei um ein Textheft, das anlässlich einer Freisinger Aufführung von Carl Heinrich Grauns Passionsoratorium "Der Tod Jesu" im Jahr 1782 gedruckt wurde. Sämtliche Rezitativ-, Arien-, Chor- und Choraltexte des Werks sind darin enthalten.

Zu hören war das Passionsoratorium am Karfreitag, den 29. März 1782, um 19 Uhr im Freisinger Dom - und zwar, wie auf dem Titelblatt erwähnt wird, im Bereich des Heiligen Grabes, einer während der Karwoche aufgestellten Nachbildung der Grablege Jesu Christi. Ausführende Musiker waren die Sänger und Instrumentalisten der fürstbischöflichen Hofkapelle. Die musikalische Leitung lag vermutlich in Händen des Vizekapellmeisters Wilhelm Joseph von Pauli. Hofkapellmeister Placidus von Camerloher war zu diesem Zeitpunkt bereits erkrankt und starb nur wenige Monate später, im Juli 1782. Trotz des entsprechenden zeitlichen und räumlichen Kontextes handelte es sich bei der Aufführung freilich nicht um ein Element der Karfreitagsliturgie, sondern um ein außerliturgisches, konzertantes Ereignis.

Die Freisinger Aufführung des Passionsoratoriums "Der Tod Jesu" im Jahr 1782 ist insofern bemerkenswert, als es sich dabei um ein Werk handelt, das in einem explizit protestantischen Umfeld entstanden ist. Den Text hatte der preußische Dichter und nachmalige Berliner Schauspieldirektor Karl Wilhelm Ramler (1725-1798) geschaffen, die Musik der königlich-preußische Kapellmeister am Hof Friedrichs des Großen, Carl Heinrich Graun (1704-1759). Uraufgeführt worden war es 1755 in Berlin. Das wegen seiner Klarheit und schlichten Eindringlichkeit bald sehr populäre Werk erreichte nach einigen Jahren auch katholische Regionen - die Prozesse der Aufklärung hatten die zweieinhalb Jahrhunderte bestehenden konfessionellen Gegensätze inzwischen so stark abgemildert, dass zumindest punktuell möglich wurde, was wenige Jahrzehnte zuvor, in den 1720er oder 1730er Jahren, noch undenkbar gewesen ist: protestantische Kirchenmusik in einer katholischen Kirche. Eine frühe Aufführung des Passionsoratoriums in katholischem Umfeld ist beispielsweise 1765 für Köln belegt, die (ebenso katholische) kaiserliche Residenzstadt Wien hörte das Passionsoratorium dann erstmals 1787. Die Aufführung im Freisinger Dom lag da bereits fünf Jahre zurück.

Autor: Florian Notter
Quellen: StadtAFS, Druckschriftensammlung.


 

Mai 2019 - Freisinger Schmetterlinge aus Josef Adams "Heimatkunde" (1922)

Nach seiner Ausbildung am Freisinger Schullehrerseminar stand der junge Volksschullehrer Josef Adam plötzlich ohne Arbeit da. Zu Beginn der 1920er Jahre, in Zeiten politischer und wirtschaftlicher Krisen, war das keine Seltenheit. Der Junglehrer ließ jedoch nichts unversucht: Um bei Bewerbungen etwas von seinem Wissen und seinen Fähigkeiten zeigen zu können und um damit größere Chancen auf eine Arbeitsstelle zu  erhalten, fertigte Josef Adam eine umfangreiche Handschrift an, der er den knappen Titel "Freising-Heimatkunde" gab; 1922 war diese im Wesentlichen fertiggestellt. Mit der Handschrift sollten die Möglichkeiten des heimatkundlichen Unterrichts exemplarisch dargestellt werden. Auf 166 Seiten gestochen schöner Handschrift bildete Adam gewissermaßen den gesamten kleinen Freisinger "Kosmos" ab: In überaus lebendiger Sprache erzählte er von der der Freisinger Geschichte, von historischen Bauwerken, von der örtlichen Flora und Fauna, von besonderen Kunstwerken, aber auch vom Gesellschaftsleben und vom Brauchtum in Stadt und Umland. Immer wieder fließen eigene Lebenserinnerungen mit ein, was Erzählungen anschaulicher macht. Von besonderem Wert sind die den Texten beigefügten und von Adam selbst gefertigten kleinformartigen Aquarelle, 93 an der Zahl.

Im Abschnitt über die Freisinger Tierwelt geht der Junglehrer kurz auf einige lokale Schmetterlingsarten ein. Fünf davon hat er aquarelliert (vergleiche Abbildungen). Bevor wir Josef Adam mit diesem kleinen ausschnitt aus seiner Heimatkunde selbst zu Wort kommen lassen, sein noch erwähnt, dass er nach einiger Zeit eine Anstellung finden konnte und viele Jahrzehnte später seine Berufskarriere als Schuldirektor in Moosburg beendete.

"Bereits im 6. Schuljahr (1907) legte ich den Grund zu einer Schmetterlingssammlung unter der Leitung meines Onkels. Früh morgens, besonders im Mai und Juni, suchte ich unter den elektrischen Bogenlampen und Gaslaternen nach Nachschwärmern, wobei es mir oft glückte, eine reiche und auch seltene Beute heimzubringen.
Man sagt nämlich, die Schmetterlinge würden, kommen sie dem Licht zunahe, betäubt, können nicht mehr fliegen, und fallen zu Boden. Es ist das jedoch nur eine Annahme. Bei mir jedoch hat sie sich bestätigt gefunden.

Auf dem Boden, an den Wänden, oder Fensterläden der Häuser konnte ich die schönsten Exemplare mühelos ernten. So z.B. hätte ich den Braunen Bären (Arctia caja) [Abb. 01] zu Dutzenden von Stücken nach Hause bringen können. Seit 5 Jahren aber wird dieser Spinner immer seltener. Das gleiche gilt von unseren beiden schönsten und größten Schwärmern, dem Totenkopf (Sphingidae Atropos) [Abb. 02] und dem Oleanderschwärmer (sphingidae nerii). Beide sind Seltenheiten unserer heimatlichen Schmetterlingswelt geworden und am "Aussterben".

Doch schaue ich zurück, so weiß ich noch wie im Jahre 1909 Kartoffelklauberinnen ca. 50 Puppen des Totenkopfes für 10 d [Pfennig] das Stück vor der Präparandenschule [in der Haydstraße] verkauften. (die Raupe des Totenkopfes lebt ja auf Kartoffelkraut und verpuppt sich unter der Erde.) Ein Zeichen, daß dieser Schwärmer früher bei uns nicht selten war.
Auch aus der Familie der Edelfalter (Gattung Apatura) sind zwei Schmetterlinge zu nennen, die ich früher in den Isarauen häufig sah, während sie jetzt nur mehr selten zu finden sind, und das wären 1. der Große Schillerfalter, Blauschiller genannt (Apatura Iris) [Abb. 03], 2. der Rote Schillerfalter (Rotschiller, A[patura] ilia var[ians] clytie) [Abb.04].

Bei uns ausgestorben, und in einer Sammlung sich selten befindender Schmetterling der Gattung Limenitis ist der Große Eisvogel. (Limenitis populi.)
Dagegen tritt in unserer Gegend recht zahlreich der Ligusterschwärmer (Sphinx ligustri) [Abb. 05] auf. Seine Raupe lebt hier ausschließlich auf jungen Eschen und ich könnte manchen Schmetterlingssammler hier in Freising (fast in der Stadt) einen Platz nennen, wo jene alle Jahre im Juni-Juli und September-Oktober in vielen Exemplaren zu finden wäre[n]."

Autor: Florian Notter
Quelle: Stadt AFS, Handschriftensammlung.


 

Juni 2019 - Verwaltungsinterner Bericht über die Gründung der Freisinger SPD (1894)

Vor 125 Jahren, am 11. Februar 1894, wurde die Freisinger SPD gegründet - damals unter der Bezeichnung "Sozialdemokratischer Wahlverein". Gründungsort war der Kerscherwirt (auch "Gasthaus zum Steindl"), im Zwickel zwischen der Vöttinger und der Thalhauser Straße gelegen (vgl. Abb.). Wie der zeitgenössischen Presseberichterstattung des Freisinger Tagblatts zu entnehmen ist, interessierte sich für die Gründungsversammlung eine überaus große Zahl an Personen; nur etwa ein Viertel konnte einen Platz im Inneren der Wirtschaft finden. Wesentlicher Grund für den Andrang dürfte der Auftritt des Hauptredners Georg von Vollmar gewesen sein. Der populäre Sozialdemokrat war Abgeordneter im Bayerischen Landtag, zugleich Reichstagsabgeordneter in Berlin und Vorsitzender der bayerischen SPD. Initiiert und organisiert hatte die Gründungsversammlung allem Anschein nach der Zinngießergehilfe Ludwig Klingseisen. Über ihn ist derzeit nur bekannt, dass er unmittelbar nach der Gründungsveranstaltung von seinem Arbeitgeber "wegen seines sozialdemokratischen Bekenntnisses", wie es in städtischen Unterlagen heißt, entlassen wurde und Freising daraufhin den Rücken kehrte, um anderswo Arbeit zu finden.

Die Gründung der Freisinger SPD 1894 ist vor dem Hintergrund des Wiedererstarkens der deutschen Sozialdemokratie in den 1890er Jahren zu sehen. Bismarcks "Sozialistengesetz", das ab 1878 die politische Arbeit der Sozialdemokraten auf vielen Felder illegalisierte und ihre Wirkungsmacht einschränkte, wurde 1890 vom Reichstag nicht verlängert. Die Abhaltung von Versammlungen, die Gründung von lokalen Vereinen oder die Publikation von politischen Schriften wurden für due Sozialdemokraten nun wieder möglich. Dass man ihnen regierungs- und behördlicherseits nach wie vor mit Misstrauen begegnete, zeigte der Umstand, dass man ihre Versammlungen offiziell beobachtete - auch in Freising.

Zur Gründungsversammlung des "Sozialdemokratischen Wahlvereins" am 11. Februar 1894 wurde der städtische Kanzlist Johann Stärzl abgeordnet: Er hatte darauf zu achten, dass die Versammlung entsprechend den Vorgaben des bayerischen Vereinsgesetzes verlief, außerdem musste er ein Protokoll darüber anfertigen. Ebendieses Protokoll, dass die Gründungsversammlung aus der nüchternen Perspektive der kontrollierenden Behörde wiedergibt, hat sich in den Aktenbeständen des Stadtarchivs Freising erhalten (vgl. Abb. der ersten Protokollseite. Hier finden Sie eine Transkription des Textes.).

Autor: Florian Notter
Quellen: StadtAFS, AA II, Nr. 1594; ebd., Postkartensammlung; ebd., Stadtgeschichtliche Dokumentation, Häuserkartei, Vöttinger Straße 22.


 

Juli 2019 - Lithographie: Freising von Norden (um 1828)

Um das Jahr 1828 kam in München eine kleine Serie von Lithographien auf den Markt, bestehend aus insgesamt 23 Ansichten verschiedener bayerischer Städte, darunter Freising (Nr. 10). Lithographiert hatte sie Gustav Wilhelm Kraus (1804-1852), überwiegend nach Vorlagen des Malers Heinrich Adam (1787-1862). Den Druck besorgte in der ersten Auflage der Münchner Joseph Selb (1784-1832). Ein altkoloriertes Exemplar der Freising-Ansicht jener ersten Auflage befindet sich in der Graphischen Sammlung des Stadtarchivs.

Als Heinrich Adam in Freising einen Standpunkt suchte, von dem aus er die Vorzeichnung für die Lithographie fertigen konnte, fiel die Wahl auf einen der Hügel im Norden der Stadt, den heute sogenannten "Lankesberg". Es war eine Entscheidung für die "klassische" Perspektive der Freisinger Stadtansicht, die sich seit dem 16. Jahrhundert zahlreiche Maler, Holz- oder Kupferstecher zu Eigen gemacht hatten. Hier, auf den nordseitigen Hügeln, ließ sich die Stadt in ihrer charakteristischen Ost-West-Ausdehnung einschließlich ihres topographischen Kontextes (Isar, Schotterebene, Alpenkette) besonders aussagekräftig erfassen.

Die Lithographie gehört zu den ersten Ansichten, die Freising nach der Mediatisierung und der Säkularisation von 1802/03 zeigen. Das Ende der fürstbischöflichen Herrschaft, die Auflösung des Hofes, die Aufhebung des Domstifts, der Kollegiatstifte und der Klöster, die Zerstörung zahlreicher Kirchengebäude, der weitgehende Ausverkauf von Kulturgütern und schließlich die Verlegung des Bischofssitzes nach München - das alles hatte sich im zurückliegenden Vierteljahrhundert ereignet; ganz abgesehen von den schwierigen äußeren Umständen, die besonders von den Koalitionskriegen (1792 bis 1815) oder der letzten großen Hungerkrise (1816/17) geprägt waren.

Von den Widrigkeiten jener Jahre lässt das helle, fröhliche Blatt kaum etwas erahnen. Trotz der Kirchenabbrüche der Säkularisationszeit wird die Silhouette noch immer von einer ansehnlichen Zahl an Kirchtürmen bestimmt. Dominierend erhebt sich mittig der Domberg über der Stadt. Während der östliche (links) und mittlere Teil des Bergs die Abbruchwelle relativ unversehrt überstanden haben, klafft im westlichen Teil (rechts) eine Lücke: Hier erhob sich bis zu ihrem Abbruch 1807 die Kollegiatstiftskirche St. Andreas. Der große Turm des Residenzschlosses, der mittelalterliche "Khueturm" (mittig), ist hier in einer letzten Darstellung zu sehen; im Sommer 1828 sollte er bis auf die Höhe der Dachtraufe des Schlosses abgerissen werden. Die Johanneskirche westlich des Doms trägt noch ihren Dachreiter.

Von der Bürgerstadt sind aufgrund der Tallage nur die markanteren Baulichkeiten auszumachen. Am Nordosteck der Stadt (links außen) spitzt der zinnenbewehrte Turm des Murntors (auch Landshuter Tor, Judentor) hervor; als erstes der sechs Stadttore fiel es 1831. Daneben ragt der Turm der Heiliggeistkirche aus der Dachlandschaft. Noch unversehrt präsentiert sich die Anlage des ehemaligen Franziskanerklosters. In den frühen 1840er Jahren wurde ein Großteil der Gebäude abgebrochen und auf dem Gelände die neue Mädchenschule (heute Grundschule St. Korbinian) errichtet. Die Klosterkirche hatte man dabei um etwa die Hälfte verkürzt und in einen Betsaal umgewandelt (heute Schulaula); das ursprüngliche hohe Kirchendach wurde dabei stark abgeflacht. Nördlich des Klosterareals ist der Bürgerturm zu erkennen. Im mittleren und oberen Teil der Bürgerstadt (rechts) fällt die Stadtpfarrkirche auf, östlich (links) davon sind die Dachreiter des gotischen Rathauses, der alten Hochschule ("Asamgebäude") sowie der Gefängnisturm auszumachen. Von der beeindruckenden Anlage des einstigen Benediktinerklosters Weihenstephan (rechts außen auf dem Berg) stehen nur mehr wenige Gebäudeflügel. Als die Lithographie gefertigt wurde, sind hier schon seit vielen Jahren eine Musterlandwirtschaftsschule, eine Forstschule und die "Centralbaumschule" untergebracht.

Autor: Florian Notter
Quellen: StadtAFS, Graphische Sammlung.


 

September 2019 - Aufstellung über die 1648 von der schwedischen Armee geforderten Brandschaftzungsgelder (1651)

Während des Dreißigjährigen Kriegs (1618-1648) war Freising mehrfach Schauplatz militärischer Offensiven. Mit dem Vorrücken feindlicher, so vor allem schwedischer und später auch französischer Truppen bis nach Bayern musste die Stadt in regelmäßigen Abständen schwere Drangsale über sich ergehen lassen. Die Kriegsgewalt entlud sich hier besonders in den Jahren 1632, 1634 und 1648: Immer wieder kam es zu Plünderungen der Häuser und zu körperlicher Gewalt gegenüber Bewohnern, auch Tote waren zu beklagen; die schwedische Armee drohte darüber hinaus mehrfach mit dem Niederbrennen der Stadt, um hohe Brandschatzungsgelder erpressen zu können.

Im Frühjahr des letzten Kriegsjahrs 1648, während in Münster und Osnabrück bereits der (nachmals sogenannte) „Westfälische Friede“ ausgehandelt wurde, fielen schwedische und französische Truppen noch einmal in Süddeutschland ein. Nach der letzten großen Schlacht des Dreißigjährigen Kriegs, die am 17. Mai 1648 zwischen einem schwedisch-französischen und einem kaiserlich-bayerischen Heer bei Zusmarshausen zuungunsten des letzteren ausgefochten wurde, zogen die Sieger eine Schneise der Verwüstung durch Bayern. In der ersten Juni-Hälfte geriet die fürstbischöfliche Residenzstadt Freising, die politisch nicht zu Bayern gehörte, kurzzeitig zu einem militärischen Brennpunkt des Krieges. Grund dafür war die von der bayerischen Armee betriebene, mit dem Fürstbischof jedoch nicht abgestimmte Einrichtung einer militärischen Abwehrstellung auf dem Freisinger Domberg. Dieses militärisch sinnlose Projekt hatte fatale Folgen: Der Domberg wurde von schwedischen und französischen Geschützen beschossen und mehrere Gebäude, darunter vor allem die Residenz, schwer beschädigt. Nach dem schnellen Ende der bayerischen Abwehr wurde Freising abermals von schwedischen Truppen besetzt und geplündert. Und: Wie schon 1632 und 1634 wurden vom Hochstift hohe Brandschatzungsgelder eingefordert.

Die Höhe dieser Brandschatzungssumme bewegte sich nach anfänglichen Vorstellungen der Schweden bei astronomischen 30.000 Reichstalern, die auf dem Verhandlungsweg aber auf 6.000 Reichstaler (9.000 Gulden) reduziert werden konnten. Die fürstbischöfliche Regierung brachte die Summe nur durch Kreditaufnahme und Verpfändung von Immobilien auf. Ein Teil der Gelder wurde sofort als außerordentliche Steuer auf die Hochstiftsuntertanen, darunter auch die Einwohner Freisings, umgelegt. Der Anteil, den die Stadt Freising aufzubringen hatte, betrug 1.800 Gulden.

Wie jede Steuererhebung wurde auch die schwedische Brandschatzungssteuer von 1648 schriftlich festgehalten. In der vorliegenden „Anlag Rechnung“ hatte man jeden Einwohner der Stadt samt seinem unbeweglichen und wertvolleren beweglichen Vermögen erfasst und den jeweils zu leistenden Anteil berechnet (vgl. das abgebildete Titelblatt und die erste Seite). Es handelte sich dabei also um eine Art außerordentliche Grund- und Vermögenssteuer. Der abzuführende Anteil bewegte sich bei rund 0,6 bis 0,9 Prozent, lag damit also vergleichsweise niedrig – angesichts der Kriegswirren und der allgemeinen Notlage dürfte die Summe für die Mehrzahl der Freisinger trotzdem ein finanzieller Kraftakt gewesen sein. Das würde erklären, warum man den Betrag erst nach drei Jahren, also 1651, beisammenhatte. In diesem Jahr brachten die beiden für die Stadt Freising zuständigen Steuereinnehmer, die Bürgermeister Caspar Thaimer und Christoph Schaurmayr, die komplettierte Summe zur fürstbischöflichen Hofkammer in die Residenz – von den vielen Kriegslasten hatte sich damit zumindest diese eine erledigt.

Eine Transkription der ersten Seite der Brandschutzanlage finden sie hier.

Neben dem hier gezeigten Anlagsbuch existiert im Stadtarchiv Freising noch ein weiteres, fast identisches Amtsbuch zur selben Angelegenheit, in dem die Einwohner mit ihren bezahlten oder noch im Ausstand haftenden Summen aufgelistet sind. Beide Bücher sind in Pergamentmakulaturen eingebunden; da man die spätmittelalterlichen Musikhandschriften nicht mehr benötigte, fanden sie – wie es in jener Zeit allgemein üblich war – als Bucheinbände eine neue Verwendung.

Autor: Florian Notter
Quellen: StadtAFS, B I, BrSchR, Nr. 1.


Oktober 2019 - Die romanische Martinskapelle kurz vor ihrem Abbruch (1959)

Es muss ein freundlicher, überaus harmonischer Anblick gewesen sein: Eine rötlich gefasste, erkennbar historische Kapelle mit schwerem Ziegeldach, Apsis und einem kleinen Dachreiter, gelegen auf einer grünen, mit Bäumen bestandenen Anhöhe. Bis 1959 war dies das Bild, das sich jedem darbot, der den Domberg über den Kanzlerbogen erreichte. Die Kapelle, die dem heiligen Martin geweiht war, hatte rund 800 Jahre lang einen festen Platz im gesellschaftlichen Gefüge der Stadt und war trotz ihrer geringen Größe und unauffälligen Gestaltung stets ein konstitutives Element im Freisinger Stadtbild. Vor 60 Jahren, im Herbst 1959, wurde sie abgebrochen. Wie die Martinskapelle vom Kanzlerbogen aus anzusehen war, zeigt eine frühe Farbfotografie, die der 2016 verstorbene Freisinger Werner Sixt in den Jahren um 1958/59 geschossen hat (vgl. Abbildung); sein Fotonachlass befindet sich heute im Stadtarchiv Freising.

Die Geschichte der Martinskapelle ist untrennbar mit der Geschichte des Kollegiatstifts St. Andreas verbunden. Das vom Freisinger Bischof Ellenhard (reg. 1052-1078) um das Jahr 1060 gegründete Stift zählte Jahrhunderte hindurch zu den einflussreichsten geistlichen Institutionen der Stadt und der Region. Mit dem Stift war eine der drei historischen Freisinger Pfarreien, die Andreas-Pfarrei, verbunden. Den Mittelpunkt des Kollegiatstifts bildete die Stiftskirche St. Andreas, die sich über dem westlichen Teil des Domberg-Südhangs erhob. Den Bau der Martinskapelle veranlassten die Kanoniker von St. Andreas wohl bald nach dem Domberg-Brand von 1159. Der Bauplatz lag einige Meter nördlich der Stiftskirche, dazwischen erstreckte sich das Areal des Andreas-Friedhofs. Wesentliches Motiv für den Kapellenbau dürfte gewesen sein, die pfarrlichen Funktionen aus der Stiftskirche auszulagern. Dabei ist es bis zuletzt geblieben: Noch 1802, im Jahr der Säkularisation des Kollegiatstifts, befand sich der Taufstein der Andreas-Pfarrei in St. Martin.

Im Zuge der Säkularisation des Andreas-Stifts wurde die Martinskapelle profaniert. Während man die beiden anderen Kirchen des Stifts – die westlich an St. Martin anschließende Allerheiligenkapelle sowie die Stiftskirche selbst – auf Veranlassung des bayerischen Staats abgerissen hatte, blieb die Martinskapelle stehen. Die dem Gebäude nunmehr zugedachte Funktion als Magazin für Feuerlöschgeräte verhinderte einen Abbruch. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde der ehemaligen Kapelle wiederum eine würdigere Nutzung zuteil: Die bedeutenden Kunstsammlungen, die die beiden Geistlichen Joachim Sighart und Heinrich Gotthard im Lauf der 1850er und 1860er Jahre dem Freisinger Priesterseminar überlassen hatten, wurden in Teilen in der Martinskapelle ausgestellt. Diese Sammlungen bilden den Grundstock des heutigen Diözesanmuseums.

In den Jahren 1900 bis 1902 veränderte sich das städtebauliche Umfeld der alten Martinskapelle stark: Das Freisinger Priesterseminar, das seit 1826 bestand und im Residenzgebäude untergebracht war, erhielt auf dem Areal der ehemaligen Stiftskirche St. Andreas einen Erweiterungsbau in monumentalen Dimensionen. Zwar war das städtebauliche Gleichgewicht auf der Westseite des Dombergs damit vollends aus den Fugen geraten, doch hatte Architekt Gabriel von Seidl zumindest versucht, St. Martin als historisches Relikt zu bewahren und in die Neukonzeption zu integrieren.

Als Ende der 1950er Jahre Seidls Erweiterungsbau wiederum durch einen Neubau ersetzt werden sollte, stand die 800 Jahre alte Martinskapelle von vorneherein zur Disposition. Auf vielerlei Ebenen wurde versucht, die Erzdiözese von einem Abriss der Kapelle abzubringen. Besonders exponiert war dabei das Engagement des Historischen Vereins Freising sowie des Bayerischen Landesamtes für Denkmalpflege (das freilich erst seit Einführung des Bayerischen Denkmalschutzgesetzes von 1973 über eine weitreichendere Wirkungsmacht verfügte). Alle Versuche den romanischen Bau zu retten, scheiterten.

Der neue Erweiterungsbau, der die städtebauliche Struktur des Freisinger Dombergs nachhaltig beschädigte, konnte 1962 bezogen werden. Sechs Jahre später wurde das Priesterseminar in Freising geschlossen – der noch wenige Jahre zuvor mit großer Entschiedenheit propagierte Neubau, dem man scheinbar bedenkenlos ein bedeutendes kulturgeschichtliches Zeugnis geopfert hatte, hatte nach nicht einmal einem Jahrzehnt des Bestehens seine ursprüngliche Bestimmung verloren. Ungeachtet der zweifellos hohen finanziellen Investitionen und der jahrzehntelangen erfolgreichen Bemühungen der Erzdiözese München und Freising, das historische Erbe auf dem Domberg lebendig zu halten und zu öffnen: Der Abbruch von St. Martin im Jahr 1959 fußte auf Planungen, die jegliche Nachhaltigkeit vermissen ließen; er war unnötig.

Autor: Florian Notter
QUELLEN: StadtAFS, NLSp Werner Sixt.
LITERATUR:
Lehrmann, Günther: Von den Baufachleuten als äußerst störend empfunden. Vor 50 Jahren: Der Abbruch der Martinskapelle auf dem Domberg, in: Stadtmagazin Fink, Ausgabe Oktober 2009, S. 12-13.
Pfister, Peter: Freising-St. Andreas, in: Fahr, Friedrich et al. (Hg.): Freising. 1250 Jahre Geistliche Stadt (Kataloge und Schriften des Diözesanmuseums für christliche Kunst des Erzbistums München und Freising 9), München 1989, S. 135-139.


 

November 2019 - Zwei Fotografien: Konrad Adenauer in Freising (1953)

„Die Gerüchte, die sich am Mittwoch hartnäckig in Freising hielten, obwohl sich alle Behörden, Polizei und Bahn in strengstes Schweigen hüllten, erwiesen sich als wahr. Bundeskanzler Dr. Konrad Adenauer, der sich zur Zeit auf einer Wahlreise durch Deutschland befindet, traf in der Nacht zum Donnerstag, wenige Minuten vor Mitternacht, mit seinem Sonderzug von Regensburg kommend in Freising ein.“ So beginnt der Bericht des Freisinger Tagblatts zum Kurzaufenthalt des ersten Bundeskanzlers während des Bundestagswahlkampfes 1953.

Trotz einer umfangreichen Presseberichterstattung und etlichen Schaulustigen, die versuchten, den Kanzler zu Gesicht zu bekommen, war Adenauers Freising-Besuch kein gewöhnlicher Wahlkampftermin. Die Stadt bot vielmehr ein sicheres Quartier im Rahmen verschiedener Wahlkampfauftritte im Lauf des 13. Augustes in München, deren wichtigster eine Großkundgebung im Deutschen Museum war. Der Sonderzug, mit dem der Bundeskanzler zu reisen pflegte, passierte am 12. August gegen 23:45 Uhr den Freisinger Bahnhof und machte ein Stück weiter südlich, auf einem Nebengleis, das zur Motorenfabrik Schlüter führte, für etwa einen Tag Halt – streng bewacht von der Stadt-, Land- und Bahnpolizei. Zu den Terminen in der Landeshauptstadt wurde Adenauer am nächsten Vormittag dann mit dem in einem Packwagon mitgeführten Dienstwagen, einem Mercedes-Benz 300, gefahren. Von dort zurückgekehrt bestieg er am Abend des 13. Augustes in Freising wieder den Sonderzug und reiste weiter.

Auch wenn es in Freising selbst keinen Wahlkampfauftritt gab, so wurde der hohe Gast dennoch freudig begrüßt: Am Morgen des 13. Augustes machte Oberbürgermeister Max Lehner dem Kanzler seine Aufwartung. Zwei Mädchen überreichten ihm einen Blumenstrauß und erhielten dafür jeweils eine Tafel Schokolade (vgl. Abb.). Ein kleineres Gespräch gab es zudem mit zwei Vertretern der lokalen CSU, dem Notar und Bundestagskandidaten Franz Seidl aus Dorfen (auf Abb. links) und dem Regierungsdirektor im Kultusministerium (und früheren NS-Widerstandskämpfer) Alois Braun (auf Abb. rechts). Bei dem Gespräch soll es laut des Tagblatt-Berichtes um die wirtschaftliche Situation in Freising gegangen sein.

Gut drei Wochen nach Adenauers Kurzaufenthalt in Freising fand die Wahl zum 2. Deutschen Bundestag statt. Der Bundeskanzler und die CDU/CSU fuhren mit 45,2 Prozent ein starkes Ergebnis ein (im Vergleich zur ersten Bundestagswahl von 1949 mit einem Plus von 14,2 Prozent). Konrad Adenauer wurde infolge des Ergebnisses vom Bundestag erneut zum Bundeskanzler gewählt – ein Vorgang, der sich 1957 und 1961 wiederholen sollte. Im Oktober 1963, nach 14 Amtsjahren, trat der inzwischen 87-jährige als Bundeskanzler zurück. Nach Freising war Adenauer in all den Jahren nicht mehr gekommen.

Autor: Florian Notter
QUELLEN: StadtAFS, Fotosammlung; ebd., Zeitungssammlung, Freisinger Tagblatt, 15.08.1963 u. 21.04.1967.

Dezember 2019 - Lithographie: Blick in die Untere Stadt (um 1835)

Im Gegensatz zu historischen Ansichten, die Freising aus einer gesamthaften Perspektive wiedergeben, sind solche, die einzelne Häuser oder Straßenzüge im Detail zeigen, nur sehr selten gefertigt worden. Visuell greifbar ist das Stadtgeschehen genau genommen erst seit dem Aufkommen der Fotografie Mitte des 19. Jahrhunderts.

Den wenigen Detailansichten aus der Zeit davor muss man umso größeren Wert beimessen. Das gilt beispielsweise für eine Serie von insgesamt 17 überwiegend kleinformatigen Kreidelithographien aus den Jahren um 1835/40. Neben einer Gesamtansicht, die Freising von Nordosten her in den Blick nimmt, und einer Darstellung des Stadtwappens stellen die übrigen 15 Lithographien verschiedene Gebäude, Plätze und Straßen in und um Freising vor: So etwa den Domplatz, den Marienplatz, das Münchner Tor, das Stadtkrankenhaus an der Kammergasse, die Isarbrücke oder die Kaserne in Neustift. Welcher Künstler diese reizvollen und historisch aussagekräftigen Bildchen geschaffen hat, ist – wie auch der Entstehungskontext – nicht bekannt.

Eine der Ansichten zeigt einen Teil der Unteren Hauptstraße, genauer: jenen Abschnitt vom Marienplatz bis ungefähr auf die Höhe des Hofkanzlerhauses, der heutigen Hofapotheke (vgl. Abb.). Der Standort des Künstlers befindet sich nahe der Südseite des Marienplatzes, den er vermutlich der besseren Perspektive wegen imaginär einige Meter in die Höhe verlegt hat. Der Straßenraum wird von alltäglichem Geschehen bestimmt: einige wenige Passanten, Wägen, Kutschen; und auf dem Platz ein paar Stände, an denen Händler Waren feilbieten. Das Hauptaugenmerk des Künstlers gilt freilich den Hausfassaden der nordseitigen Hauptstraßenbebauung, die eine lange, heterogene Reihe bilden. Vom Eckhaus Marienplatz / Untere Hauptstraße (auf der Ansicht Nr. 1, heute Marienplatz 6) bis zum Hofkanzlerhaus sind es 17 Stadthäuser, allesamt unterschiedlich hoch und breit und ganz verschiedenartig gestaltet. Über dem Ende der Häuserzeile ragt der kleine barocke Dachreiter der 1803 säkularisierten Franziskaner-Klosterkirche hervor.

Einige Häuser sind bis heute erhalten geblieben, manche davon weitgehend unverändert. So zum Beispiel das Hofmarschallhaus (auf der Ansicht Nr. 6, heute Untere Hauptstraße 5), das ab 1756 für den fürstbischöflichen Hofmarschall neu errichtet wurde; von der in den 1780er Jahren im ersten Obergeschoss eingerichteten fürstbischöflichen Stadtwohnung zeugt heute noch der (Huldigungs-)Balkon mit dem schmiedeeisernen Geländer; im 19. Jahrhundert diente das Haus als Rentamt (Finanzamt). Ebenso unverändert präsentiert sich das östlich anschließende Haus (auf der Ansicht Nr. 7, heute Untere Hauptstraße 7) mit seinem spätbarocken Fassadenschmuck. Von einiger Bedeutung war zum Zeitpunkt der Entstehung des Bildchens ein ehemaliger Domherrenhof (auf der Ansicht Nr. 11, heute Untere Hauptstraße 17), der das 19. Jahrhundert über als Landgericht (historische Vorgängerbehörde des heutigen Landratsamtes) genutzt wurde.

Stark verändert haben sich die Häuser Nr. 3, 4 und 5: Um 1840 erweiterte der Heiglbräu Franz Seraph Sporrer sein Anwesen (auf der Ansicht Nr. 3), indem er die beiden östlich anschließenden Stadthäuser (Heiglbäcker, Weindlbräu) hinzukaufte und zu einem Haus zusammenfasste; im späten 19. Jahrhundert erhielt das Anwesen den Namen „Bayerischer Hof“. Zu Beginn der 1970er Jahre wurden auch die ersten beiden (einschließlich der jeweils rückwärtigen) Parzellen zu einem Anwesen zusammengefasst, allerdings durch einen vollständigen Neubau, der sich nach wie vor nicht recht ins Platzbild einzufügen vermag. Im Vergleich mit der Lithographie hat die nordseitige Häuserzeile der Unteren Hauptstraße also gerade in ihrem westlichen, zum Marienplatz hin gelegenen Abschnitt während des 19. und 20. Jahrhunderts an Heterogenität und Spannung eingebüßt.

AUTOR: Florian Notter
QUELLEN: Stadtarchiv Freising, Graphische Sammlung; ebd., Häuserkartei.
LITERATUR: Bienen, Hermann: Freisinger Brauereien in Überblick. Eine Datensammlung zur Familien-, Besitz- und Baugeschichte, in: Notter, Florian (Hg.): Freising als „Stadt des Bieres“. Kulturgeschichtliche Aspekte (Schriften des Stadtarchivs Freising 1), Freising 2016, S. 131-303, hier, S. 194-202.

Nach oben